Die Hörseite

Letzte Änderung 26.08.2023 | English Version

Sie werden es gemerkt haben. Der Link auf meiner Homepage zeigt meinen Namen im Fingeralphabet.

Es gibt nichts mehr drum herumzureden. Ich bin ziemlich schwerhörig und habe mir angewöhnt, damit recht offen und direkt umzugehen. Das ist nicht übergriffig oder aufdringlich gemeint, aber der einzige Weg, um Missverständnissen zu begegnen.

Auf dieser Seite möchte ich einige Hinweise geben, welche die Kommunikation mit mir betreffen. Gleichzeitig ist nicht zu übersehen, dass über Hörbehinderungen immer noch eine ganze Reihe von Missverständnissen in der Welt sind. Manche davon werden von irreführender Werbung sogar noch befeuert. Auch dazu möchte ich einige Informationen geben.

Zur Sprachregelung. Ich bevorzuge hörbehindert, auch um deutlich zu machen, dass ich mich zur Gruppe der Menschen mit Behinderungen zugehörig fühle und es hier um Inklusionsfragen geht. Das oft verwendete hörgeschädigt mag ich nicht (ich habe keinen Schaden, schon gar keinen Dachschaden). schwerhörig ist zu sehr mit den typischen Verständnisproblemen alter Menschen assoziiert, wo der Übergang zwischen reinen Hörproblemen und Demenz fliessend sein mag; jedenfalls meine ich geistig noch recht klar zu sein.

1. Missverständnisse

Ein Hörgerät ist (k)eine Brille. Das häufigste Missverständnis ist der Glaube, ein Hörgerät sei ähnlich wie eine Brille. Wer schlecht sieht, kauft sich eine Brille und (meistens, nicht immer [1]) sieht er/sie dann einfach wieder scharf. Die Werbung einer großen Akustik-Kette, mit einem bekannten Gesicht aus der Unterhaltungsbranche, suggeriert, dass ein Hörgerät das Hörvermögen vollständig wiederherstellt und man damit dann sogar wieder Konzerte genießen kann. Nichts könnte weiter von der Realität entfernt sein als das.

Ein Hörgerät ist und bleibt eine Krücke. Eine ziemlich gute zwar, aber eben eine Krücke. Dennoch bin ich natürlich froh und dankbar, in dieser Zeit zu leben, wo es diese Dinger gibt. Noch vor wenigen Jahrzehnten sah das ganz anders aus. [2]

Wir reden dann halt einfach bischen lauter. Dieser joviale vielleicht freundlich gemeinte, aber doch recht herablassend rüberkommende Satz geht direkt in die Magengrube. Hörbehindert sein hat zwar auch aber bei weitem nicht nur mit Lautstärke zu tun. Es gibt sie in jedem Alter und die Assoziation mit dem etwas tüteligen älteren Herrn, die im Satz oben mitschwingt, ist natürlich in jeder Hinsicht unangebracht. Jedenfalls sind die Defekte im Hörsystem i.d.R. sehr komplex. Sie betreffen einerseits die Frequenzen und damit zwangsläufig andererseits auch den Dynamikbereich. D.h. die Hörschwellen sind frequenzabhängig heraufgesetzt (d.h. man hört einen Reinton erst ab einer höheren Lautstärke) was den Dynamikbereich automatisch mit einschränkt (denn bei 120db ist definitiv Schluss) Selbst wenn die Hörschwellen, was seltenst der Fall ist, horizontale Linien sind, so ist es mit einer linearen Verstärkung (wir reden halt lauter) natürlich nicht getan [3]. Denn die Unbehaglichkeitsschwellen (also Lautstärken, welche als unangenehm bis schmerzhaft empfunden werden), können bei einer Hörbehinderung widersinnigerweise sogar noch herabgesetzt sein. D.h. das Hörgerät muss die schlechter gehörten Frequenzen einerseits anheben, muss andererseits aber auch drauf achten, die Unbehaglichkeitsschwelle nicht zu überschreiten. Das bedeutet, dass der Original-Dynamikbereich stark komprimiert wird. Vielleicht ahnen Sie nun, warum das kein Klanggenuss werden kann.

Fazit: trotz schlechten Hörens kann man ziemlich lautstärkeempfindlich sein. Deshalb: Anschreien geht gar nicht.

Wenn man das Hörgerät abschaltet hat man Ruhe zum Arbeiten. Ein immer noch weit verbreiteter Glaube. Gerade Mathematiker haben es ja gerne ruhig beim Arbeiten, also kann Schwerhörigkeit da sogar ein Vorteil sein? Nun, das mag zwar vorkommen (ich kenne tatsächlich eine CI [4] Trägerin, die bei Abschaltung totale Stille erlebt, aber das ist eine Ausnahme), aber die meisten erworbenen Schwerhörigkeiten sind mit starken Ohrgeräuschen (Tinnitus) [6] verbunden. Darüber zu schreiben wäre ein Thema für sich. Nur so viel: sollten Sie von Ohrgeräuschen betroffen sein, sprechen Sie mich für einen nüchternen Ratschlag gerne an und vermeiden Sie die Ratschläge, die bei einer Internetsuche ganz oben auftauchen. Bei all diesen Ratschlägen werden Sie am Ende Geld, Zeit und Nerven aber nicht das Problem los sein.

Ich habe das gar nicht gemerkt, dass Du Hörgeräte trägst, für mich scheinst Du ganz normal zu hören. (oder auch die Sie Variante davon) Ein wahrlich vergiftetes Lob. Erstens habe ich ganz bewusst die größten Dinger, die es gibt, weil da mehr Technik reinpasst und die großen 13er Batterien 10 Tage halten, also übersehen kann man die eigentlich nicht [5]. Und zweitens wird es nach diesem Lob natürlich noch viel schwieriger Hilfestellungen einzufordern (Tenor: wir verstehen gar nicht, was der hat, der versteht doch). Drittens und damit kommt das Wichtigste: Verstehen ist für Hörbehinderte Hochleistungssport. Während Normalhörige einfach nebenbei sozusagen leistungslos verstehen und dann dabei alles Mögliche gleichzeitig machen können, wird bei unsereins ein nicht unerheblicher Teil der geistigen Energie durch den Prozess des Verstehens absorbiert. Denn letztlich versteht man mit dem Gehirn, das die herreinkommende Information verarbeitet und für unsereins besteht diese Information sozusagen aus Lückentext. Deshalb ist man abends auch einfach geschafft und zwar ziemlich. Das offen zuzugeben ist nicht immer und nicht in jeder Situation opportun. Andererseits: die bequeme Haltung, dass es doch irgendwie auch so geht, führt zwangsläufig zu Frustration und Überforderung, und das für lange Zeit ohne dass man es so richtig merkt. Dies ist auch einer der Gründe, weshalb ich hier an die Öffentlichkeit gehe.

2. Kommunikation mit mir

Ich bevorzuge eine ruhige Gesprächsatmosphäre ohne Nebengeräusche in nicht zu großen Runden und in Räumen, welche keinen Nachhall haben. In solchen Umgebungen habe ich dank meiner Versorgung kaum Probleme zu verstehen. Ansonsten hilft es mir, wenn ich beim Gespräch das Mundbild sehen kann. Ich kann zwar nicht Lippenlesen, dennoch liefert das Mundbild wertvolle zusätzliche Information.

Weiterhin wäre es nett, wenn Sie nicht zu schnell sprächen. Wie oben erklärt, versteht man mit dem Gehirn und für mich ist Verstehen oft mit dem Interpretieren auditiver Lücken verbunden.

Flüstersprache kann ich schon seit vielen Jahren nicht mehr verstehen. Deshalb: versuchen Sie erst gar nicht, mir in Sitzungen o.ä. etwas zuflüstern zu wollen. Ich werde Sie sowieso nicht verstehen.

Telefonieren bleibt herausfordernd. In ruhiger Umgebung i.d.R. kein Problem, ich benutze da die Freisprecheinrichtung. Aber ein cold call irgendwo in geräuschvoller Umgebung geht nicht. Deshalb bevorzuge ich es, wenn Telefonate vorher vereinbart werden.

Sollte ich mal nicht reagieren: bevor Sie mich für unfreundlich halten, denken Sie zunächst an das Naheliegenste: ich habe Sie schlicht nicht gehört oder nicht verstanden. Mitunter habe auch ich Hemmungen, immer wieder nachzufragen, wenn ich etwas nicht verstanden habe.

Stehpartys (z.B. vor dem Kolloquium) meide ich, nicht aus Unhöflichkeit, aber weil es akustisch sinnlos ist.

Sitzungen

Sitzungen in kleiner Runde, z.B. im Hausdorff Raum sind weitestgehend unproblematisch, auch weil man jeden sehen kann. Nur wenn im Sommer die Fenster auf sind, dann stört der Straßenlärm doch erheblich.

Leider sind die Idealbedingungen nicht immer einzuhalten. Deshalb sei hier auch ganz offen gesagt, dass es für mich kaum etwas Schlimmeres gibt als die Sitzungen im Lipschitzsaal. Der Raum hallt, die Leute verteilen sich weit im Raum, und bleiben bei Wortmeldungen auch mal maskentragend sitzen (ja und ehrlich gesagt macht mich solch rücksichtsloses Verhalten wütend, insbesondere wenn die Akteure auch noch im Awareness Bereich engagiert sind). Da bin ich raus und zwar komplett. Aber auch die Flure in unserem Gemäuer sind wegen des Halls für mich schwierig. Mir über den Flur etwas zuzurufen ist meistens zwecklos.

Seminare und Vorlesungen

In Vorlesungen liest der Dozent was vor. Ja, aber die Studierenden haben vielleicht Rückfragen und da fängt das Problem an. Egal ob Zeichensaal, kleiner oder großer Hörsaal. Alle diese Räume haben eine hallige Akustik und bestenfalls kann ich Fragen aus einer der ersten Reihen verstehen. Bei Fragen aus den Reihen weiter hinten bitte ich dann i.d.R. darum, dass jemand aus der ersten Reihe für mich nochmals übersetzt. In der Vergangenheit gab es diesbezüglich schon mal Missverständnisse und Irritationen. Ich bin für bessere Alternativen offen. Noch besser wäre es, man hätte die Möglichkeit ein Mikrofon rumgehen zu lassen. Vielleicht liest dies ja ein Behindertenbeauftragter mit entsprechendem Budget.

Bei Seminaren ist es leider so, dass ganz egal wo ich mich hinsetze, es Teilnehmer/innen gibt, die für mich in einer akustisch ziemlich ungünstigen Position sitzen (z.B. verdeckt von jemandem, oder ich sehe sie nur von hinten). Da ist dann etwas Kreativität und guter Wille gefragt.

Klausuren

In Klausuren wird das Flüsterproblem (s.o.) relevant. Ein Prüfling hat eine Frage und gibt mir ein Zeichen. Da er/sie die anderen nicht stören möchte, wird mir etwas zugeflüstert. Da muss ich passen. Es hilft nichts, in diesen Situationen müssen alle anderen akzeptieren, dass das Gespräch zwar in gedämpfter aber im wesentlichen in normaler Lautstärke stattfinden muss.

Hybrid Sitzungen

OK hier mal Klartext. Hybrid Sitzungen sind eine einzige Katastrophe, auch weil es mich als Steuerzahler wirklich ärgert, was die Technik dazu kostet und wie wenig sie leistet. Das sog. Raummikrofon überträgt nur die Stimmen aus nächster Nähe, und auch da lässt die Klangqualität sehr zu wünschen übrig. Die Wortbeiträge aus dem Off sind nicht zu verstehen, für mich sowieso nicht, aber auch Normalhörige haben gelegentlich damit ihre Probleme. Gelegentlich habe ich bei externen Hybrid Sitzungen schon einmal die Forderung nach einem Schriftdolmetscher ins Spiel gebracht. Die dazu gehörten Ausflüchte sind spannend und zeigen, dass die Bereitschaft zur Inklusion sehr schnell nachlässt, wenn man merkt, dass das nicht nur Lippenbekenntnisse kostet.

3. Sprechen Sie mich ruhig an

Ich habe kein Problem damit und bin auch nicht unangenehm berührt. Im Gegenteil, ich freue mich über Interesse an der Sache. Gerne würde ich mich auch mit anderen Betroffenen austauschen. Ich bin nun schon seit reichlich 10 Jahren unfreiwilliger Experte in schlechtem Hören und gebe meine Erfahrungen, was Lärmschutz, Technik, Rehamöglichkeiten, und Selbsthilfegruppen betrifft, gerne weiter. Auch zum Thema Tinnitus, wovon nicht nur Hörbehinderte betroffen sind, kann ich etwas beitragen und ggf. auch einen Vortrag dazu halten. Nur eines kann ich definitiv nicht: Sie davon befreien. Sprechen Sie mich bei Bedarf dennoch gerne an.

Matthias Lesch, 14.07.2023, Letzte Änderung 26.08.2023,

4. Bemerkungen

[1] In den allermeisten Fällen geht es bei einer Brille um die Korrektur eines Abbildungsfehlers. Ich verkenne nicht, dass es Sehprobleme gibt, welche sich durch Brillen nicht beheben lassen; glücklicherweise sind die selten.

[2] Wahr ist leider auch, dass Hörgeräte ihren Preis haben, in meinem Fall rund 6000 Euro. Krankenkassen und Beihilfestellen halten so etwas selbstverständlich für völlig überflüssigen Luxus und verweisen regelmäßig auf Geräte einfachster Ausführung. Mit letzteren könnte ich vielleicht existieren, nicht jedoch meinen Beruf ausüben. Ich persönlich klage selbstverständlich nicht, jedoch kann ein Hörproblem für viele Menschen neben der persönlichen gesundheitlichen Belastung zu einem ernsthaften finanziellen Problem werden.

[3] Hier habe ich etwas vereinfacht. Bei den sehr viel selteneren Schallleitungsschwerhörigkeiten kann es tatsächlich sein, dass man verstärkt und gut ist. Die weitaus überwiegenden Schwerhörigkeiten betreffen jedoch das Innenohr. Und da ist eben die Schwierigkeit, dass man nur in gewissen Grenzen verstärken kann, um das Ohr nicht noch zusätzlich zu belasten und damit weiter zu schädigen.

[4] Ein Cochlea Implantat (CI) ist eine Innenohr Prothese. Die auditive Wahrnehmung erfolgt dann unter Umgehung des äußeren Ohres mittels direkter elektrischer Stimulation des Innenohres. Das Hören muss dabei allerdings wieder neu erlernt werden und ein Erfolg kann nicht garantiert werden.

[5] Den Hype um möglichst kleine möglichst unsichtbare Geräte kann ich überhaupt nicht verstehen. Leider ist ein Hörproblem noch immer mit einem Stigma verbunden und so wünscht die weitaus überwiegende Zahl der Kunden möglichst kleine Geräte. Der Markt liefert was gewünscht wird, leider zu Lasten der Qualität. Die nächste Generation Geräte wird es nicht mehr mit der 13er Batterie geben und Akku Geräte muss man jede Nacht aufladen, manchmal sogar tagsüber zwischenladen.

[6] Ich verlinke hierzu mal lieber nichts. Zu kaum einem Thema findet sich im Internet so viel irreführende Information wie zum Thema Tinnitus. Viele haben ihn, die Mehrzahl der Hörbehinderten sowieso, aber auch viele scheinbar Normalhörige (ich auch, die meiste Zeit habe ich Frieden mit ihm geschlossen, es gelingt aber auch nach vielen Jahren leider nicht immer). Auch wenn Ihnen Ihr Nachbar anderes erzählen sollte: es gibt dafür nicht den geringsten Ansatz zu einer kausalen Therapie, dafür gibt es jede Menge Quacksalber, die aus der Not noch Profit schlagen. Und natürlich werden Sie immer jemanden finden, der Ihnen im Brustton der Überzeugung erzählt, dass ihm Kügelchen (sie wissen schon die Zuckerkügelchen ohne Wirkung über den Placebo Effekt hinaus aber mit gespeicherter Information durch Schütteln, Klopfen und Verdünnen, vgl. [Böhmermann]), ein bestimmter Heilpraktiker, Sauerstofftherapie, Gingko (ein bekanntes Präparat kostet 50 Euro die Packung für gar nichts), Hören auf das innere ich, Noiser (also das Austreiben des Teufels mit dem Beelzebub, das Ohr braucht nicht noch zusätzlich Belastung), Kortison Infusionen (macht außer in D per IGEL Leistung sonst niemand auf der Welt, was sagt uns das?), Laser Therapie, Geistheilung, Ostheopathie, traditionelle chinesische Medizin [7] und was sonst noch ganz sicher geholfen haben.

Ihnen als Mathematiker/in muss ich nicht erklären, dass sich die empirische Evidenz für einen vermuteten Kausalzusammenhang jedenfalls nicht aus Hörensagen ableiten lässt. Deshalb Akzeptanz und Gewöhnung ist der Goldstandard. Ich freue mich über jede Zuschrift, Protestemails selbsternannter Tinnitusexperten auf meine o.g. Bemerkungen werde ich jedoch ungelesen in den Spam Ordner verschieben. Also lassen Sie es bitte. Sollte mich jemand abmahnen wollen, dann legen Sie doch bitte eine unabhängige Studie bei, welche eine Wirkung über den Placebo Effekt hinaus nachweist. Es würde mir eine Freude sein, über ein solches Verfahren öffentlich zu berichten.

[7] Manches von dieser Liste mag auch für etwas gut sein, und sei es auch nur um dem Patienten Zuwendung zukommen zu lassen oder dem Anbieter den Lebensunterhalt zu sichern. Einiges ist jedoch Scharlatanerie und eines wird keines der genannten Mittel/Therapiekonzepte leisten: Sie von einem Leiden am subjektiven Tinnitus befreien, das können nur Sie selbst. Die Gesundheitsindustrie verdient prächtig an dem ganzen Unsinn und niemanden scheint das so wirklich zu stören.