Mathematik 6-stündig I,II (WS 1999/2000, SS 2000, Hermann Karcher, Bonn)

Inhalte und Ziele

In dieser Vorlesung werden Lineare Algebra und Differential- und Integralrechnung (kurz: Analysis) integriert behandelt. Es wird zwei Übungsscheine 'Analysis' (nach Klausuren am Ende der beiden Semester) und einen Übungsschein 'Lineare Algebra' (nach Klausur vor Ende des zweiten Semesters) zu erwerben geben. Ich plane, die Übungen 6-stündig zu machen; dabei sollen sich zwei Übungsleiter die 6 Stunden einer Studentengruppe und die Korrekturen der Analysis- bzw. Lineare Algebra- Übungen teilen. Ich habe im kommentierten Vorlesungsverzeichnis der Mathematik erklärt, wie die Aufteilung zwischen meinem Kurs und dem Parallelkurs Analysis 4-st, Lineare Algebra 4-st gedacht ist.

In der Linearen Algebra stimmen die verbreiteten Bücher von Gerd Fischer, von Klaus Jänich, von Wilhelm Klingenberg, von Max Koecher in der Stoffauswahl sehr weitgehend überein, und ich werde dieser Übereinstimmung folgen. Die Begriffe sind abstrakter als in der Analysis. Als hauptsächliche Schwierigkeit wird angesehen, den Studierenden das Argumentieren mit diesen Begriffen (als erstes: Linearkombinationen und Lineare Abbildungen) sowohl in sehr konkreten wie auch in abstrakteren Situationen beizubringen. Ich werde diese Anwendungen der Linearen Algebra auch in Analysis- Situationen üben. Dazu müssen -- abweichend von den genannten Büchern (vergleichen Sie jedoch den entsprechenden Kommentar von Jänich) -- die Skalarprodukte vor den Determinanten behandelt werden. Das erleichtert zusätzlich, die Determinanten zusammen mit ihrer Bedeutung für Volumenberechnungen zu besprechen. Eigenwerte und Normalformen werden in den einfacheren (aber häufigeren) Situationen zuerst behandelt. Dabei nehme ich in Kauf, daß die Herleitung der Jordanschen Normalform der Zeit zum Opfer fallen könnte.

In der Analysis werde ich im ersten Semester von dem Aufbau der gängigen Lehrbücher abweichen. Es findet sich dort ein langer 'Vorkurs' über Folgen, Reihen, Konvergenz und Stetigkeit, der oft als Durststrecke vor Beginn der Differentialrechnung empfunden wird. Ich werde die Polynome als einführendes Übungsmaterial benutzen. Dies ist möglich, weil die Polynome schon vor der Kenntnis der reellen Zahlen differenziert und integriert werden können; außerdem kann man mit einem Argument des Archimedes zeigen, daß Polynome mit positiver Ableitung wachsen. (Dies zentrale Ergebnis wird sonst aus dem Mittelwertsatz gefolgert, der auf den reellen Zahlen beruht.) Auf diese Weise kann das Üben sofort an Material beginnen, daß auch nachträglich zu Ihrem Handwerkszeug gehört. -- Periodische und andere für Anwendungen wichtige Funktionen findet man unter den Polynomen (und ihren Quotienten) nicht; derartige neue Funktionen sollen durch Approximation gewonnen werden. Dazu müssen die reellen Zahlen gründlich besprochen werden. Die an den Polynomen geübten Hilfsmittel sind bereits gut genug, um die Konvergenz der Approximationsfolgen einfach zu beweisen und so die Funktionen sin, cos, exp usw. mit ihren Ableitungen zu gewinnen. -- Innerhalb und außerhalb der Mathematik sind die komplexen Zahlen von fundamentaler Bedeutung. Mit einem weiteren (s.u.) Hilfsmittel können alle bisher besprochenen Funktionen als differenzierbare Funktionen mit komplexen Zahlen als Argumenten und Werten erklärt werden (was sich als enormer Fortschritt erwiesen hat). Das Hilfsmittel heißt 'Majorisierung durch die geometrische Reihe', Es ist das verbreitetste Verfahren, Konvergenz zu beweisen. -- Bis hierher ist der Nutzen der Hauptsätze der Differentialrechnung deutlich geworden. Wir besprechen und interpretieren als nächstes die Integration, mit deren Schaffung Newton ein 2000 Jahre altes Grundsatzproblem löste. -- Bis zu dieser Stelle ist uns nur ein (hier nicht erwähnter) Satz begegnet, bei dem unsere Methoden (nämlich 'Archimedes Argument' und 'Monotoniesatz', s.o.) nicht zu Approximationen mit expliziter Fehlerabschätzung führten. Das Verhalten konvergenter Funktionenfolgen zwingt uns schließlich, uns auf die Stetigkeit zu konzentrieren, ein Begriff, der erst seit dem Ende des 19. und nicht schon seit dem Ende des 17. Jahrhunderts der Grundbegriff der Analysis ist. Hier zahlt sich meine Änderung der Reihenfolge ein weiteres Mal aus: Die Argumente zur Behandlung der stetigen Funktionen werden Ihnen jetzt, mit allen Ihren inzwischen gesammelten Erfahrungen, viel leichter fallen, als bei einer Behandlung vor der Differentialrechnung. -- Zu diesem Material gibt es ein Manuskript, das für Übungsleiter vollständig ist, während für Studierende Zwischenrechnungen fehlen, so daß nur von einem roten Faden gesprochen werden kann.

Im zweiten Semester Analysis werden wir (jetzt der üblichen Literatur folgend) zuerst gewöhnliche Differentialgleichungen und danach mehrdimensionale Differentialrechnung besprechen. Für beides sind auch die Grundbegriffe der Linearen Algebra notwendig.

Nach dem ersten Semester kann aus dem Parallelkurs (Analysis, Lineare Algebra) in Mathematik 6-st gewechselt werden, nur bei guter Nacharbeit während der Semesterferien auch in umgekehrter Richtung. Während des ersten Semesters ist wegen der geänderten Reihenfolge kein Wechsel nach Analysis I möglich. Um nach Mathematik I,II im dritten Semester Analysis III (mehrdimensionale Integration) hören zu können, ist intensive Nacharbeit während der Semesterferien nötig.