Krokodilstränen für TIMSS, Autonomieschwindel für die Hochschulen

H. Karcher (Bonn)



Erpressung statt Kompetenz.

Natürlich ist es viel besser, wenn bei der Eröffnung des ICM98 oder bei der Begutachtung von Sonderforschungsbereichen Politiker oderAdministratoren sehr freundliche Reden an ihr Mathematiker-Publikum halten, in denen sie mathematische Forschung, mathematische Ergebnisse als wichtig anerkennen, die geleistete Arbeit loben und für die Zukunft alle Unterstützung zusagen, als wenn solche Reden nicht gehalten würden. Aber der Unterschied zwischen dieser Theorie und dem Alltag der Universitätspraxis ist inzwischen so groß, daß von solchen Versprechungen kaum noch Ermutigung ausgeht. Im März 1998 hat das Wissenschaftsministerium NRW der Universität Bonn 4.500.000,-DM gesperrt (und anderen Universitäten ähnliche Summen), so lange bis die Mathematiker und Chemiker "freiwillig" Prüfungsordnungen zugestimmt haben würden, die sie für ungeeignet halten. Die gesperrte Summe ist ein mehrfaches des Jahresetats der beiden Fächer. Mit anderen Worten: Unbeteiligten Fächern wurden die Arbeitsmittel gesperrt, um diejenigen Fächer unter mehr Druck zu setzen, die seit Jahren das Ministerium von der Unvernunft der jetzt erzwungenen Regelungen zu überzeugen versuchten -- zunächst Stellungnahmen der Institute einzeln und Arbeit in Fachkommissionen (die neu zusammengesetzt wurden, wenn sie nicht die gewünschten "Ergebnisse" vorlegten), schließlich Unterschriftensammlung unter den Hochschullehrern der Mathematik und Stellungnahme der DMV. Ich bin nicht in Verhältnissen aufgewachsen, in denen dieser Umgang mit Partnern, die die eigentliche Arbeit tun sollten, üblich war; der Nachwuchs an Hochschullehrern wird sehr knapp werden, wenn erfolgreicher Umgang mit Erpressung auch noch zu deren Qualifikationen gehören muß.

Auf den wesentlichsten Punkt zugespitzt ging es darum,
ob die Diplomarbeit Teil der Ausbildung ist oder Teil der Diplomprüfung
(und im letzteren Fall natürlich kurz zu sein hat). Ehe das Ministerium in der geschilderten Weise seine Interpretation von mehr "Autonomie" für die Hochschulen klar gemacht hatte, hat es seine Kompetenz in Ausbildungsfragen mit dem Heft "Perspektiven: Studium zwischen Schule und Beruf", Luchterhand ISBN 3-472-03056-9, unterstrichen. Die Ministerin spricht im Vorwort von drei wegweisenden Beiträgen der bereits 1974 gegründeten Gemeinsamen Kommission für die Studienreform, und die Autoren schreiben in ihrem Vorwort (S.16), daß "erstmals in der Geschichte der nordrheinwestfälischen Studienreform Arbeitsergebnisse zu aktuellen Fragestellungen einer breiteren öffentlichkeit vorgestellt" würden. Ergebnisse dieses epochalen Werkes sind:

S.80: Die Befähigung zu sogenanntem fachfremden Unterricht, der in denSchulen ohnehin unvermeidlich ist, wird so zu einer Zielvorgabe für die Ausbildung. Es kann dabei auf die Erfahrung verwiesen werden, daß Lernprozessebei Kindern und Jugendlichen nicht primär von der Fachkompetenz der Lehrerinnenabhängen.

S.117: Da außerdem in den Schulen aus organisatorischen und personellen Gründen immer wieder fachfremd unterrichtet werden muß und eine Aufstockung der Planstellen nicht in Sicht ist, sollten die zukünftigen Lehrerinnnen und Lehrer auch durch entsprechend strukturierte Studienangebote die Gelegenheit erhalten, sich bereits während des Studiums auf die Anforderungen fachfremden Unterrichts einzustellen.


Eigentlich hätte man glauben können, daß nach dem Fehlschlag des Versuchs,
Mengenlehre mit nicht dafür ausgebildeten Lehrern an die Schulen zu bringen, die Methode
des Lehrens durch Ausbreitung von Inkompetenz nicht wieder empfohlen werden würde.
Einen Monat, nachdem wir zu einer Stellungnahme jener "Perspektiven" aufgefordert
worden waren, hat dasselbe Ministerium die bewährte Form der Diplomarbeit mit
Gewalt abgeschafft. Andere Universitäten hatten schon vorher aufgegeben. Reagiert
werden konnte nicht mehr nach inhaltlichen Kriterien, politische Einschätzungen
bekamen Vorrang. Natürlich fielen diese an verschiedenen Universitäten unterschiedlich
aus, das "divide et impera" ist gelungen, der weitgehende Konsenz der Mathematiker
in Ausbildungsfragen ist für lange Zeit zerstört. Einen Erfolg gibt es immerhin schon,
verschiedene Länder akzeptieren das 9-semestrige deutsche Diplom nicht mehr als
gleichwertig zu ihrer Masters Ausbildung.

Kann man guten Willen unterstellen? Ein Rückblick.
Meine Versuche, die ministeriellen Vorgaben für den Mathematikunterricht an den
Schulen zu beeinflussen, begannen 1973, als Lutz Führer und ich eine vernichtende
Kritik der gerade erschienen Empfehlungen für die Oberstufe geschrieben haben.
Unsere Kritik wurde von den Fachleitern in NRW überraschend ausführlich diskutiert.
Einer der Autoren der Empfehlungen, selbst Schulleiter, erreichte sogar, daß ich zu einer
Sitzung der für die Empfehlungen verantwortlichen Kommission eingeladen wurde. Leider
wurde es ein verlorener Tag, da der Vertreter des Ministeriums als erstes die Tagesordnung
ändern ließ, so daß die Themen, zu denen ich hätte diskutieren können, entfielen. Später schickte mich meine Universität zu den Anhörungen wegen der geplanten Lehrerausbildungsgesetze. Natürlich gab es unterschiedliche Stellungnahmen von Professoren, z.B. in Abhängigkeit von deren Fachrichtung und Institution. Das Ministerium nahm dazu so Stellung: "Wenn sich zwei Professoren
widersprechen, dann setzen wir uns mit den Argumenten gar nicht erst auseinander, wir
gehen davon aus, daß sich die Meinungen neutralisieren."
Zunächst habe ich das
für die Entgleisung eines Sprechers gehalten, daß es wirklich genau so ist, ist mir
erst im Lauf der folgenden zwei Jahrzehnte klar geworden. Kein Wunder, daß die
Mathematik, zu deren Merkmalen die Argumentation gehört, in der Bildungspolitik
unter die Räder gekommen ist. -- Mit meiner übernahme des Vorsitzes eines sogenannten
"Fachausschusses Mathematik" eskalierte die organisierte Zeitverschwendung von Hochschullehrern durch das Ministerium. Dieses hatte zunächst die Arbeit solcher Ausschüsse ungeheuer dringend gemacht, nach Ablieferung unserer Vorschläge passierte 7 Monate lang gar nichts, zwei Tage vor Weihnachten eine dringende Sitzung. Der Vorsitzende der Studienreformkommission, W. Scharlau, verlangte mehrfach eine Erklärung der Stagnation. Die beiden Vertreter des Ministeriums sagten schließlich, die Rahmenkonzeption des Ministeriums habe sich geändert, aber sie könnten noch nichts dazu sagen. Am 8. Januar bekam ich die telephonische Auskunft: "Ich habe diese Aufgabe gerade erst übernommen, ich konnte mir noch keine Meinung bilden". Mit anderen Worten, eine Drehung des Personalkarussels hatte das Ministerium konzeptionslos gemacht, alle Arbeit war für den Papierkorb.

Auch wenn ich mich aus persönlichen Gründen dazu nicht genauer äußern will,
den Schaden, den die Personalstrukturreform und deren übergangsregelungen Anfang der
achtziger Jahre an den Hochschulen des Landes anrichteten, muß ich wenigstens erwähnen.

Bei der Beurteilung von Dingen, die schief gehen, muß man entscheiden, was man
für ungewollt und was für absichtlich hält. Um 1984 wurden die Anmeldetermine
für die Referendarausbildung, einmal im Jahr, kurz vor die Examenstermine
gelegt. Die während des Studiums mit Regelstudienzeiten und Semesterwochenstunden statt
Inhalten traktierten, jetzt auch geprüften Lehrämtler konnten noch einmal in Ruhe darüber
nachdenken, ob sie ihr Engagement der Schule zur Verfügung stellen wollten oder sich doch
lieber einen anderen Arbeitgeber suchen sollten, um dem Staat eine Lehrerschwemme zu ersparen. Ich kann diese Verschwendung der Zeit von Auszubildenden nicht als unabsichtlich entschuldigen, und ich empfinde seit damals auch die Begründungen für Regelstudienzeiten als unehrlich. Immerhin wurden die Anfängerzahlen Lehramt Mathematik für etwa acht Jahre ganz klein, so daß alle von den Studierenden weitergegebenen Studienerfahrungen und Ausbildungstraditionen abbrachen...

Aus jener Zeit muß auch der Anfang einer "erfolgreichen" Einrichtung in Erinnerung bleiben.
Heutzutage definiert die Kapazitätsformel die Ausbildungskapazität eines Fachbereichs, ohne
daß inhaltliche Fragen eine Rolle spielen. Auch die jüngeren Hochschullehrer haben sich daran gewöhnt. Der Auftrag für die Entwickelung der Formel gab als Ziel an, die Studienanfänger
jedes einzelnen Faches (z.B. die der Mathematik) gleichmäßig auf die Fachbereiche
dieses Faches zu verteilen (also die Studierenden der Mathematik auf die mathematischen
Fachbereiche). Wegen der sehr ähnlichen Struktur der Mathematik an den verschiedenen
Universitäten war dafür jede monotone (und halbwegs einfache) Formel gleich gut, so
daß die Mathematiker ohne viel Diskussion zustimmten. Kaum war die für diesen Zweck
bestimmte Formel akzeptiert, wurde sie zum Vergleich verschiedener Fachbereiche benutzt,
zusammen mit der Mitteilung, daß kapazitätswirksame änderungen von Studienordnungen
nicht mehr genehmigt würden. Ja, wenn wir schon damals die vielen Pflichtveranstaltungen
in kleinen Gruppen, die zu den amerikanischen Masters-Studiengängen gehören, in unseren
Studienordnungen gehabt hätten, dann wäre alles ganz anders gekommen. Nur leider haben
unsere Studierenden freiwillig Mathematik gelernt, auch ohne daß alles als Pflichtveranstaltung
aufgezählt war; sie lernten, selbst zu beurteilen, was zum Verständnis nötig war. Ehe wir
uns zu sehr in Richtung des amerikanischen Vorbildes drängen lassen, sei daran erinnert,
daß die Graduiertenprogramme in Mathematik und Physik fast aller US-amerikanischen Universitäten zu mehr als der Hälfte mit ausländischen Studierenden betrieben werden, u.a. mit den noch gern gesehenen deutschen Diplommathematikern, und daß manche Universitäten für ihre eigenen Masters Studenten einjährige(!) Brückenkurse anbieten müssen, ehe sie sie als graduate students annehmen können. Und noch ein kleiner Tip: In Bonn sind emeritierte Kollegen, teilweise semesterlang,
in die Kapazitätsberechnungen einbezogen worden; wir konnten das zwar nicht abstellen,
aber vielleicht ist das an anderen Universitäten anders.

Heutige Rahmenbedingungen an Hochschule und Schule.

Jetzt, da die Zahl der Studierenden für das Lehramt wieder gewachsen ist, sind die Rahmenbedingungen stark verändert. Studiengänge sind nicht mehr inhaltlich
definiert, sondern dadurch, daß sie a) eine festgelegte Zahl von Semesterstunden (SWS)
umfassen und b) mit beliebigen anderen Fächern frei kombiniert werden dürfen.
Im vergangenen Semester durften wir z.B. einer LA-Studienordnung für Physik zustimmen, die
keinerlei Mathematikveranstaltungen enthielt. Das würde jeder so verfassen, der sich
Mathematik als zweites Fach vorstellt. Aber die Studienordnung muß auch für andere Kombinationen gelten; daher haben wir beantragt, auf die mathematischen Anforderungen der Veranstaltungen in theoretischer Physik hinzuweisen. Die Physiker haben das akzeptiert, die Studentenvertreter der Fakultät haben mit einem Sondervotum protestiert, weil durch diesen (beratenden) Hinweis verdeckte Anforderungen gestellt würden, die über die vorgeschriebenen SWS hinausgingen. Dies ist ein gutes Beispiel dafür, in was für unsinnige Diskussionen die Gremien der "mehr Autonomie
Universitäten" durch formale, fachunspezifische Vorschriften getrieben werden. Die Situation wird verschärft dadurch, daß wir einerseits Studierende mit Interesse an der Mathematik haben und andererseits Studierende, die ihre Einstellungsaussichten durch Mathematik als zweites Fach verbessern wollen, ohne die benötigte Neugier für mathematische Fragen mitzubringen. Deshalb liegt es nahe, sich der formalen Vorgaben zur Senkung der Ansprüche zu bedienen. Die Vorstellung, bessere TIMSS Noten ließen sich durch Vermehrung des Pflichtunterrichts in Mathematik erreichen, ohne genügend viele gut qualifizierte, argumentationsfähige Mathematiklehrer auszubilden, wird sich als Fehler herausstellen -- und fachfremd wird es
schon gar nicht gehen.

Trost findet man auch nicht, wenn man die
neuen Lehrpläne für Mathematik ansieht.
(Zur Zeit sind sie in Arbeit, zu Beginn des Jahres konnte man sie im Internet ansehen.)
Die Propaganda Formulierungen klingen grandios, aber wie hohl sie sind, zeigt sich dort,
wo mathematische Details sichtbar sind. So wird für die Analysis vorgeschlagen
"... uneigentliche Integrale bieten die Möglichkeit, den Schülerinnen und Schülern
die Reichweite der Idee der Zahl zu verdeutlichen." Diese uneigentlichen Integrale
kommen mehrfach vor und sind hoffentlich nur eine Verwechslung von Fachausdrücken, oder?
"Innermathematisch werden auch die Grenzen des Flächeninhaltsbegriffs durch die
Untersuchung nichtintegrierbarer Funktionen und uneigentlicher Integrale ausgelotet".
Andererseits kommt es auch nicht so genau darauf an: "Im allgemeinen wird eine übertriebene
Exaktheit bei der Formulierung fachlicher Begriffe auch im Leistungskurs
zu einer unfruchtbaren Distanz zu den anschaulichen Grundlagen führen." Offenbar war
der Versuch der DMV Stellungnahme von 1976 vergeblich, den Unterschied zwischen übertriebenem
Gebrauch unnötiger Begriffe und exaktem Gebrauch benötigter Begriffe
zu erklären. Dreidimensionale interessante Sachverhalte habe ich nicht gefunden, aber
"Für die Schülerinnen und Schüler ist der euklididsche Raum in der Regel der
geeignete Rahmen für das räumliche Strukturieren. Er kann aber bei Bedarf ohne
weiteres(!) überschritten werden, z.B. bei zweidimensionalen Projektionen eines
Hyperwürfels". Nach Ausführungen über die Tragweite mathematischer Modelle folgt:
"Hierfür reicht im Grundkurs ein anschauliches Verständnis von Linearer Abhängigkeit
vollständig aus". Auf den einzigen in Argumenten unvermeidlichen
Grundbegriff zu verzichten, heißt ja wohl, das Argumentieren selber aufzugeben. Und
noch näher dem fachfremden Unterricht des ehemaligen Wissenschaftsministerium ist
man in der Stochastik: "Es ist in diesem Bereich kein Verfahren für das Testen von
Hypothesen vorgegeben. Ob man hier gängige Alternativtests (Punkthypothesen,
Konfidenzintervalle) durchführt oder eine Bayessche Betrachtung benutzt, sollte
dem Lehrer überlassen werden oder noch besser: den Schülerinnen und Schülern.
Die könnten dann Eigeninitiative und individuelle Methoden entwickeln".
Klar, daß die Universitäten an den Folgen schuld sein werden.