clUB II:

Wintersemester 2002/2003
Bertram Kienzle (Universität Rostock): Die Zeit und ihre Logik:

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  1. Die Idee der Zeitlogik. Das deutsche Wort "Zeitlogik" ist die Übersetzung des englischen "tense logic". Mit "tense" bezeichnet man im Englischen das, was wir im Deutschen "Tempus" nennen. Die Zeitlogik studiert die Zeit mit sprachanalytischen Methoden, indem sie von den Tempora verbi ausgeht. Dabei geht sie allerdings nicht von ihnen aus, wie sie in den Sätzen einer natürlichen Sprache anzutreffen sind, sondern arbeitet mit idealisierten Tempora. Diese notiert sie in Gestalt der Satzoperatoren "Es war der Fall, dass", "Es ist der Fall, dass" und "Es wird der Fall sein, dass". Diese Operatoren erhalten ihre inhaltliche Deutung, indem man für Sätze, in denen sie vorkommen, sog. Wahrheitsbedingungen aufstellt: "Es war der Fall, dass p" ist an einer Zeitstelle t wahr genau dann, wenn es eine Zeitstelle vor (= in der Vergangenheit von, früher als) t gibt, an der p wahr ist. "Es ist der Fall, dass p" ist an einer Zeitstelle t wahr genau dann, wenn p an t wahr ist. "Es wird der Fall sein, dass p" ist an einer Zeitstelle t wahr genau dann, wenn es eine Zeitstelle nach (= in der Zukunft von, später als) t gibt, an der p wahr ist.
  2. Zeitlogische Systeme. Orientiert man sich an unserer geläufigen Rede von "vor" und "nach", so wird man sagen müssen, dass t1 vor t3 kommt, wenn t1 vor t2 und t2 vor t3 kommt. Relationen, die für beliebige t1, t2 und t3 diese Eigenschaft haben, nennt man transitiv. Die Transitivität der "kommt vor"- oder, wie man auch gerne sagt, "früher als"-Relation kann man mit Hilfe des Tempus so ausdrücken: "Wenn es der Fall war, dass es der Fall war, dass p, dann war es der Fall, dass p". Auf diese Weise lässt sich ein Zusammenhang zwischen Tempora und Eigenschaften der "früher als"-Relation herstellen. Nun kann man zeigen, dass unter den in (1) genannten Wahrheitsbedingungen die folgenden Aussagen gültig sind: Wenn es immer der Fall war, dass q unter der Bedingung, dass p, der Fall ist, dann gilt: q war immer der Fall, falls p immer der Fall war. Wenn es immer der Fall sein wird, dass q unter der Bedingung, dass p, der Fall ist, dann gilt: q wird immer der Fall sein, falls p immer der Fall sein wird. Wenn p der Fall ist, dann war es immer der Fall, dass p der Fall sein wird. Wenn p der Fall ist, dann wird es immer der Fall sein, dass p der Fall war. Man kann diese vier Aussagen als Axiome einer sehr primitiven Theorie der Zeit betrachten. Nimmt man zu diesen Axiomen noch die beiden Regeln Wenn eine Aussage gültig ist, dann ist auch die Aussage, die durch Voranschreiben von "Es war immer der Fall, dass" entsteht, gültig. Wenn eine Aussage gültig ist, dann ist auch die Aussage, die durch Voranschreiben von "Es wird immer der Fall sein, dass" entsteht, gültig. hinzu, erhält man ein zeitlogisches System, das in der Literatur als minimale Zeitlogik bezeichnet wird, weil es noch keinerlei spezielle Eigenschaften der "früher als"-Relation, wie z.B. deren Transitivität, einfängt. Eine der Fragestellungen der Zeitlogik lautet nun: Welche Eigenschaften dieser Relation lassen sich mit Hilfe der Tempora wie einfangen?
  3. Gibt es eine wirkliche Zukunft? Die philosophisch interessantesten Probleme wirft zweifellos das Tempus Futur auf. Denn an der Frage "Gibt es eine wirkliche Zukunft?" scheiden sich die Geister. Entsprechend umstritten sind die Wahrheitsbedingungen für dieses Tempus. Hier sind einige Positionen, die mit Mitteln der sog. indeterministischen Zeitlogik untersucht werden können: Pointilismus, Antaktualismus, Aktualismus, Hemiaktualismus, Christentum, heroischer Existenzialismus, analytischer Existenzialismus. Ich selbst finde diese letzte Position am attraktivsten. Sie bejaht die Existenz einer wirklichen Zukunft, setzt sie aber nicht mit den naturgesetzlich determinierten zukünftigen Zuständen und Ereignissen gleich, sondern lässt Raum für von uns Menschen gewollte zukünftige Zustände und Ereignisse.

Last changed: December 2nd, 2002